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2. Theoretische Grundlagen und Kompetenzmodelle

Die Beforschung von Intelligenz hat in der wissenschaftlichen Psychologie eine mehr als hundertjährige Tradition. Der Erfolg der Intelligenzforschung lässt sich auch auf ihren praktischen Nutzen zurückführen: Intelligenz hat sich als zuverlässiger und starker Prädiktor von menschlicher Leistung in allen möglichen Domänen des Lebens, in denen das Denkvermögen gefordert wird, herausgestellt (siehe z. B. Carroll, 1993; Rost, 2013). Der Erfolg der Anwendung der Intelligenzforschung lässt sich auch dadurch erklären, dass die Leistungsfähigkeit bei der Messung von Intelligenz schon bei (relativ) kurzer Testdauer (d. h. quasi «im Labor») stark mit der Leistung bei realen Problemstellungen und Aufgaben, bei denen Denkvermögen erforderlich ist (d. h. quasi «in der echten Welt»), übereinstimmt. So lässt sich mit psychologisch-diagnostischer Intelligenzmessung auch die Leistung im beruflichen oder schulisch-akademischen Umfeld erstaunlich gut vorhersagen (Hülsheger et al., 2007; Sackett et al., 2022; Hunter & Hunter, 1984; Salgado et al., 2003a; Salgado et al., 2003b; Schmidt & Hunter, 1998).

Die Ergebnisse einer grossen Zahl von Intelligenzstudien wurden inzwischen in einer Theorie vereint, die Ordnung und Struktur in die vielen Bereiche menschlicher Denkfähigkeit bringt. Diese Theorie wird (als Würdigung des Lebenswerks der Forscher, die sie wesentlich beeinflusst haben) Cattell–Horn–Carroll-Theorie genannt. Die Leistungstests zur Erfassung kognitiver Fähigkeiten im Multicheck® Wirtschaft und Administration lassen sich in diese Theorie einordnen. Die Cattell–Horn–Carroll-Theorie (CHC-Theorie; McGrew, 2009) integriert verschiedene historische Theorien der Intelligenz unter Verwendung einer einheitlichen Nomenklatur für die bis dahin identifizierten Teilbereiche der Intelligenz und ordnet so die Vielzahl der messbaren mentalen Fähigkeiten. McGrew (2009) verbindet in der CHC-Theorie die bis dahin etablierten Erkenntnisse und Theorien der Intelligenz, indem er die Bezeichnung verschiedener Intelligenzfaktoren (d. h. verschiedene Bereiche der Denkfähigkeit) mehrerer vorangehender Klassifikationen vereinheitlicht. Die Theorie weist so auch auf die allgemeine Replizierbarkeit und Gültigkeit der verwendeten Ausgangstheorien hin. Massgeblich ist bei der CHC-Theorie die strukturelle Anordnung kognitiver Fähigkeiten auf drei hierarchischen Ebenen, wobei eine Ebene jeweils die Faktoren der unteren Ebene in einer kleineren Anzahl von Faktoren zusammenfasst. Die Faktoren sind nach oben hin immer abstrakter und allgemeiner (und somit immer universeller), nach unten hin immer konkreter und schmaler (aber für spezifische Anforderungen dafür immer relevanter). Wie in Abbildung T1 ersichtlich, steht auf Ebene III ein allgemeiner Intelligenzfaktor (g-factor oder g; Spearman, 1904) der sich theoretisch als allgemeine Intelligenz in allen möglichen kognitiven Leistungen niederschlägt. Auf Ebene II stehen eher breite Fähigkeiten wie Visuelle Verarbeitung (Gv, z. B. räumliches Vorstellungsvermögen), Fluides schlussfolgerndes Denken (Gf, z. B. deduktives Denken bzw. fluide Intelligenz nach Cattell, 1971) oder Verständnis-Wissen (Gc, z. B. Tiefe und Breite von kulturspezifischem Wissen bzw. kristalline Intelligenz nach Cattell, 1971). Auf Ebene I sind in der CHC-Theorie schmale Fähigkeiten (z. B. lexikalisches Wissen oder mentale Rotation von Figuren) angesiedelt, die in der Intelligenzforschung bereits identifiziert und messbar gemacht wurden.

Abbildung T1: Skizzierung der Cattell–Horn–Carroll-Theorie (McGrew, 2009) Abbildung T1. Skizzierung der Cattell–Horn–Carroll-Theorie (McGrew, 2009) mit schmalen Faktoren auf Ebene I, eher breiten ­Faktoren auf Ebene II und einem allgemeinen Intelligenzfaktor (g) auf Ebene III. Gf = Fluides schlussfolgerndes Denken (fluid reasoning), Gc = Verständnis-Wissen (comprehension-knowledge), Gsm = Kurzzeitgedächtnis (short-term memory), Gv = Visuelle Verarbeitung (visual processing), Ga = Auditive Verarbeitung (auditory processing), Glr = Langzeitspeicherung und -abruf (long-term storage and retrieval), Gs = Verarbeitungsgeschwindigkeit (cognitive processing speed), Gt = Reaktions- und Entscheidungsgeschwindigkeit (decision and reaction speed), Grw = Lesen und Schreiben (reading and writing), Gq = Quantitatives Wissen (quantitative knowledge). Gkn = Allgemeines (domänenspezifisches) Wissen (general [domain specific] knowledge), Gh = Taktile Fähigkeiten (tactile abilities), Gk = Kinästhetische Fähigkeiten (kinesthetic abilities), Go = Olfaktorische Fähigkeiten (olfactory abilities), Gp = Psychomotorische Fähigkeiten (psychomotor abilities), Gps = Psychomotorische Geschwindigkeit (psychomotor speed), RG = Allgemeines sequentielles (deduktives) Denken (general sequential [deductive] reasoning), I = Induktives Denken (induction). Abbildung nach McGrew (2009).

Als Instrument zur Bestimmung von kognitiven Fähigkeiten schliesst der Multicheck® Wirtschaft und Administration verschiedene Faktoren der Intelligenz sensu CHC-Theorie ein. Eng ist der Bezug vor allem im Bereich Methodenkompetenzen, bei dem es um die Messung der Befähigung einer Person geht, sich aufgrund ihrer Denkfähigkeit auch in neuartigen Situationen erfolgreich mit den Anforderungen der Berufslehre auseinanderzusetzen. So erfassen die Testaufgaben des Multicheck® Wirtschaft und Administration im Bereich Methodenkompetenzen die breiteren Fähigkeiten (auf Ebene II der CHC-Theorie) Fluides schlussfolgerndes Denken (Gf; Gebiet «Logik [Logisch-schlussfolgerndes Denken]»: z. B. Figurale Analogien), Langzeitspeicherung und -abruf (Glr; Gebiet «Merkfähigkeit», z. B. Text erinnern). Verarbeitungsgeschwindigkeit (Gs) sowie Reaktions- und Entscheidungsgeschwindigkeit (Gt) werden im Multicheck® Wirtschaft und Administration massgeblich im Gebiet «Konzentration» (z. B. im Untergebiet «Koordinaten») erfasst.

Die Gebiete, die im Multicheck® Wirtschaft und Administration im Bereich der Selbst- und Sozialkompetenzen erfasst werden, orientieren sich am Kompetenzmodell, das in den Bildungsplänen des Berufs Kaufmann/Kauffrau EFZ verankert ist (SKKAB, 2011, 2021). Zu dem Bereich der «Sozial- und Selbstkompetenzen» gehören gemäss dem Modell von SKKAB (2011) Handlungskompetenzen aus den Gebieten Leistungsbereitschaft (z. B. «Ich übernehme Verantwortung für meine Arbeiten und mein Verhalten», SKKAB, 2011, S. 12), Kommunikationsfähigkeit (z. B. «Ich bewältige herausfordernde Situationen, indem ich Missverständnisse und Standpunkte kläre und Lösungen anstrebe», SKKAB, 2011, S. 12), Teamfähigkeit (z. B. «Im Team übe ich konstruktive Kritik und bin auch fähig, Kritik entgegenzunehmen und zu akzeptieren», SKKAB, 2011, S. 12), Umgangsformen (z. B. «Ich passe meine Erscheinung den Gepflogenheiten der Unternehmung oder Organisation an und trete situationsgerecht auf», SKKAB, 2011, S. 13), Lernfähigkeit (z. B. «Ich bin offen für Neues und reagiere flexibel auf Veränderungen», SKKAB, 2011, S. 13) und ökologisches Bewusstsein (z. B. «Ich verwende ich Energie, Güter, Arbeits- und Verbrauchsmaterial sparsam», SKKAB, 2011, S. 13). Das Kompetenzmodell von SKKAB (2021) unterscheidet nochmals Sozialkompetenz von Selbstkompetenz. Sozialkompetenz wird wie folgt definiert: «Kauffrauen und Kaufmänner gestalten ihre Beziehungen zur vorgesetzten Person, im Team und mit der Kundschaft bewusst und gehen mit Herausforderungen in Kommunikations- und Konfliktsituationen konstruktiv um. Sie arbeiten in oder mit Gruppen und wenden dabei die Regeln für eine erfolgreiche Teamarbeit an.» (SKKAB, 2021, S. 6). Selbstkompetenzen werden demgegenüber folgendermassen definiert: «Kauffrauen und Kaufmänner reflektieren ihr Denken und Handeln eigenverantwortlich. Sie sind bezüglich Veränderungen flexibel, lernen aus den Grenzen der Belastbarkeit und entwickeln ihre Persönlichkeit weiter. Sie sind leistungsbereit, zeichnen sich durch ihre gute Arbeitshaltung aus und bilden sich lebenslang weiter.» (SKKAB, 2021, S. 6).

Über den Bereich der Selbst- und Sozialkompetenzen lässt sich sagen, dass dabei charakteristischerweise das Erkennen von zielführendem Handeln in anspruchsvollen Arbeitssituationen notwendig ist. Danach richtet sich die Definition und die Operationalisierung dieser Kompetenzen im Multicheck® Wirtschaft und Administration, bei der die Beurteilung einer Vielzahl von herausfordernden Kommunikations- und Konfliktsituationen und verschiedener Handlungsalternativen im Sinne eines Situational Judgment Tests verlangt wird (siehe Kapitel «Fähigkeitsbereiche im Multicheck® Wirtschaft und Administration» sowie Kapitel «Inhalte der Kompetenzgebiete: Aufgaben»).