5. Interpretation der Ergebnisse
Die Testwerte können mit den beschriebenen Definitionen der Kompetenzen und Kompetenzbereiche interpretiert werden (siehe Kapitel «Beschreibung des Verfahrens»). Kognitive Eignung für eine Berufslehre wird insgesamt aufgefasst als die Übereinstimmung zwischen den Anforderungen einer Berufslehre an eine Person und den Voraussetzungen dieser Person betreffend die drei Bereiche: (1) bislang erworbenes Wissen, (2) verschiedene Aspekte der Denkfähigkeit sowie (3) die Befähigung zur erfolgreichen Bearbeitung berufsspezifischer Inhalte und Aufgaben. Diese Eignung wird gemäss Anforderungsanalyse als ein Faktor gesehen, der mit dem Leistungserfolg einer Person in kognitiv anspruchsvollen Bereichen der dualen Berufsbildung zusammenhängt und der nicht zuletzt auch die individuelle Zufriedenheit von Lernenden mit ihrer Lehrstelle begünstigt. Die Anforderungen der verschiedenen Berufe, über die mit dem Multicheck® Wirtschaft und Administration Aussagen getroffen werden können, werden einerseits zur optischen Bestimmung der Passung in der grafischen Darstellung der Ergebnisse (d. h. der Prozentrangwerte) auf dem Ergebnisbericht wiedergegeben (in Form von Anforderungslevels als Minimalanforderung). Andererseits wird zur Quantifizierung der Eignung ein Index der gewichteten Normwerte aller Kompetenzgebiete als «Gesamtpassung zum Beruf» berechnet. Dieser Kennwert beinhaltet die normierte Testleistung der jeweiligen Person aus den verschiedenen Gebieten in allen Kompetenzbereichen (Fach-, Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenzen), welche in Bezug zum Anforderungsprofil des gewählten Berufs gesetzt wurde. Diese zwei Anwendungen von Anforderungsprofilen werden in den folgenden Abschnitten genauer beschrieben.
5.1 Die Interpretation der Ergebnisse mittels Anforderungslevels
Die individuellen Testergebnisse werden als Prozentrang ausgegeben. Dem Prozentrangwert kann entnommen werde, wie viel Prozent der Vergleichsstichprobe einen niedrigeren oder maximal ebenso hohen Wert erzielt haben (also wie viele Personen eine geringere oder vergleichbare Testleistung erzielt haben). Die Ausprägung kann zwischen 0 und 100 liegen. Ein Prozentrangwert von 75 bedeutet beispielsweise, dass die Leistung der Person höher oder maximal gleich hoch ausfällt wie bei 75 Prozent der Vergleichsstichprobe. Gleichzeitig bedeutet es, dass nur 25 Prozent eine noch höhere Leistung im Test erzielt haben. Wenn Prozentränge aus einer Normalverteilung abgeleitet werden, führen im mittleren Bereich der Verteilung der Rohwerte schon kleine Unterschiede zwischen Personen zu großen Veränderungen in den Prozenträngen (d. h., dass im mittleren Bereich der Prozentränge eine hohe Rohwertdichte herrscht). An den beiden Enden der Verteilung entsprechen grosse Differenzen in den Rohwerten nur kleinen Unterschieden in den Prozenträngen (d. h., dass dort eine niedrige Rohwertdichte herrscht). Die Differenzierung der Personen durch die Prozentrangwerte ist somit im Vergleich zu normalverteilten Normwerten (wie Standardwerten oder IQ-Werten) im mittleren Bereich erhöht und in den extremen Bereichen verringert.
Die Anforderungsprofile des Berufs werden im Ergebnisbericht als orangene Umrandungen von Leistungslevels dargestellt und zeigen an, welches Leistungsniveau ideale Bewerberinnen und Bewerber gemäss Anforderungsprofil für den ausgewählten Beruf in den einzelnen Gebieten mitbringen sollten. Werden die Anforderungen unterschritten beziehungsweise übertroffen, so wird das Gebiet zusätzlich mit einem Dreieck markiert, dessen Spitze nach unten beziehungsweise nach oben zeigt (siehe Abbildung I1).
Abbildung I1. Prozentrangwerte für die Bereiche der Fach- und Methodenkompetenzen (blaue Balken) und deren Gebiete (graue Balken) auf Seite 1 der Auswertung. Es sind beispielhaft die Anforderungslevels für den Beruf Kaufmann/Kauffrau EFZ dargestellt (orangene Umrandungen der Leistungslevels).
Bei den Anforderungslevels handelt es sich um empirisch gewonnene Richtwerte, die von den spezifischen Anforderungsprofilen von einzelnen Ausbildungsbetrieben abweichen können.
So kann zum Beispiel bei einem Unterschreiten der Anforderungen im Gebiet Englisch abgeschätzt werden, ob gute Englischkenntnisse im Berufsalltag dieses spezifischen Ausbildungsbetriebs vorausgesetzt werden müssen. Die Interpretation einzelner Gebietswerte ist bezüglich der Vorhersagekraft jedoch der Interpretation der Bereichswerte und des Gesamtbereichswerts unterlegen, da letztere mehr Messungen einbeziehen und somit diagnostisch-statistisch robuster sind.
5.2 Die Interpretation der Ergebnisse mittels Gesamtpassung
Auf der ersten Seite des Ergebnisberichts wird der Wert Gesamtpassung zum Beruf numerisch und grafisch abgebildet (siehe Abbildung I2). Die Gesamtpassung zum Beruf wird unter Verwendung der als z-Werte transformierten Ergebnisse der Person (d. h. Normwerten zwischen «-3» und «3» mit einem Mittelwert von «0») aus allen Gebieten berechnet. Dieser Index der gewichteten Normwerte wird erstellt, indem die Testleistung der Person aus allen Gebieten in den drei Kompetenzbereichen (Fach-, Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenzen) per Gewichtung in Bezug zum Anforderungsprofil des gewählten Berufs gesetzt wird. Dabei werden die Gebiete je nach Anforderungsprofil unterschiedlich stark gewichtet: Sind Gebiete für das Berufsbild relevanter, so erhalten sie ein stärkeres Gewicht bei der Berechnung der Gesamtpassung zum Beruf und haben somit mehr Einfluss auf die Ab- oder Zunahme der Gesamtpassung. Je höher die Testleistung ausfällt, desto grösser wird also die Gesamtpassung zum Beruf — insbesondere dann, wenn das Ergebnis in den Bereichen hoch ausfällt, die gemäss Anforderungsprofil stark gewichtet werden. Die Gesamtpassung zum Beruf ist somit ein Ausdruck des Eignungsgrads der Person im Hinblick auf das Anforderungsprofil. Eine sehr ähnliche Prozedur haben Kersting et al. (2008) bereits für die anforderungsorientierte Entscheidung bei der Interpretation des Wilde-Intelligenz-Test 2 beschrieben. Nach dieser berufsspezifischen Gewichtung wird der Index der gewichteten Normwerte erneut im Rahmen der Ergebnisse in der Normstichprobe z-standardisiert, wodurch knapp 70% der Personen einen Wert zwischen -1 und 1 erhalten (es resultiert der Wert «Gesamtpassung zum Beruf» in der Einheit «Standardabweichungen vom Mittelwert»). Ergebnisse werden immer seltener, je weiter sie zu den Extremen hin liegen. Es handelt sich bei der Gesamtpassung zum Beruf nicht um ein psychologisches Konstrukt, sondern um ein technisches Aggregat (vgl. Kersting et al. 2008).
Abbildung I2. Gesamtpassung zum Beruf auf Seite 1 des Ergebnisberichts.
Die Gesamtpassung zum Beruf ist ein stark zusammengefasster Kennwert. Tiefere Werte in einem Gebiet können durch höhere Werte in einem anderen Gebiet ausgeglichen werden (im Sinne eines kompensatorischen Modells). Wenn im Auswahlprozess von Interesse ist, wo die Stärken und Schwächen einer Person liegen, sollte das Augenmerk auf die Ausprägungen in den einzelnen Bereichen und Gebieten gerichtet werden.
Tabelle I1 führt ein Beispiel für die Berechnung des Index der gewichteten Normwerte auf mit fiktiven Ergebnissen einer Testdurchführung aber mit den realen Anforderungsgewichten des Berufs Kaufmann/Kauffrau EFZ. Die verwendeten Gewichte innerhalb eines Berufs summieren sich immer zu eins, sodass es keine künstlichen Niveauunterschiede im Kennwert Gesamtpassung zum Beruf zwischen den verschiedenen Berufen gibt. Das in Tabelle I1 aufgeführte Beispiel einer Berechnung des Index der gewichteten Normwerte zeigt auf, dass dieser Wert höher liegen kann als der Durchschnitt der einfachen Normwerte (d. h. der z-Werte), wenn besonders in jenen Gebieten eine hohe Testleitung erzielt wurde, in denen die Anforderungsgewichte grösser sind, und unterdurchschnittliche Testleistung in Gebieten vorliegt, für die niedrige Anforderungsgewichte definiert sind. In Tabelle I1 wird dies daran ersichtlich, dass der resultierende Index der gewichteten Normwerte grösser ist als der Mittelwert der ungewichteten Normwerte (z-Werte).
Tabelle I1. Beispiel für die Berechnung des Index der gewichteten Normwerte als Grundlage für die Berechnung der Gesamtpassung zum Beruf in einer Auswertung für den Beruf Kaufmann/Kauffrau EFZ
Anmerkung. Die z-Werte sind die individuellen normierten Testergebnisse (Normwerte). Anforderungsgewichte unterscheiden sich je nach Anforderungsprofil des Berufs, für den die Auswertung berechnet wird. Für den Kennwert «Gesamtpassung zum Beruf» wird der Index der gewichteten Normwerte (erneut) z-standardisiert zu einem normativen Abweichungskennwert (Einheit: Standardabweichungen).
5.2.1 Weiterführende Interpretation der Auswertung
Ein weiterer Anhaltspunkt bei der Interpretation der Auswertung ist das Bild der Eignungswerte auf Bereichsebene. Ist das Ergebnis im Bereich Fachkompetenzen wesentlich niedriger als das Ergebnis im Bereich Methodenkompetenzen (und entsprechen die Ergebnisse der Gebiete im Bereich Methodenkompetenzen dem Anforderungsprofil), kann vermutet werden, dass grundsätzlich die nötigen kognitiven Fähigkeiten vorhanden sind, um das noch fehlende schulische Wissen zu erarbeiten. Es könnten hier Hypothesen abgeleitet werden, warum die Person mit dem vorhandenen Potenzial die Lernleistung in den Schulfächern nicht erbringen konnte. Dies kann beispielsweise auf Persönlichkeitseigenschaften, mangelnde Sprachkenntnisse, mangelnde Lerngelegenheit, oder auf ein bildungsfernes soziales Umfeld zurückzuführen sein. Sofern die Fachkompetenzen höher ausgeprägt sind als die Methodenkompetenzen, kann interpretiert werden, dass die vorhandenen Fähigkeiten auf der Schule sehr gut eingesetzt wurden, um die Fachkompetenzen aufzubauen.